Deutschlandfunk | 25. Juni 2019, "Musikszene" | Michael Struck-Schloen | June 25, 2019
Toskanische Klarheit
Der Pianist Andrea Lucchesini
Als Andrea Lucchesini 1983, mit 18 Jahren, seinen ersten Wettbewerb gewann, gab es noch so etwas wie eine italienische Klavierschule. Ihre HeldenMehr lesen
Als Andrea Lucchesini 1983, mit 18 Jahren, seinen ersten Wettbewerb gewann, gab es noch so etwas wie eine italienische Klavierschule. Ihre Helden waren Arturo Benedetti Michelangeli, Maurizio Pollini ‒ und Maria Tipo, von der Lucchesini Jahre lang unterrichtet wurde. Der gebürtige Toskaner war ihr „Produkt“, in technischer und musikalischer Hinsicht. Aber er entwickelte bald seinen eigenen Kopf, verzichtete auf eine Karriere als Virtuose, die ihm die Plattenfirmen nahelegten, und suchte Alternativen. Zeitgenössische Komponisten wie Luciano Berio interessierten ihn mehr als Liszt, Lucchesini spielte Kammermusik, unterrichtete, entwickelte seinen glasklaren, aber emotionalen Stil. Am Beginn des Jahrtausends versenkte er sich in den Kosmos Beethoven und nahm die 32 Klaviersonaten auf; jetzt hat er sich genauso intensiv und reflektiert mit dem Spätwerk von Franz Schubert auseinandergesetzt.
„Schubert ist in allem, was er tut, der ewige Fremde: ständig auf der Suche, immer auf Wanderschaft, ein Mensch auf der Suche nach sich selbst, nach einer Welt, die er doch nie finden wird. Für mich erzählt davon seine Musik: von der Suche nach einer besseren Welt.“
Wanderschaft und ständige Suche ‒ womöglich nach einer „besseren Welt“: damit können sich viele Künstler identifizieren, die ihren Weg nicht als eine vorgezeichnete Linie verstehen, sondern als Möglichkeit, die Kunst und die eigene Existenz zu umkreisen, in ihrer ganzen Fülle zu erfahren. Andrea Lucchesini gehört zu den Suchenden unter den Pianisten der Gegenwart. Und er ist, über Irrwege und Phasen der Reifung, mit 54 Jahren bei Franz Schubert angekommen ‒ einem Komponisten, in dem er sich wiederfindet, in vielfacher Hinsicht.
„Schubert passt in keine Schublade. Während Beethoven seiner Sache immer sicher war ‒ nach dem Motto: „Es muss sein!“ ‒, ist Schubert immer auf der Flucht. Bei ihm gibt es keine Sicherheiten. Er schreibt nur für sich selbst, im Wissen, dass die meisten seiner Werke weder veröffentlicht noch gespielt werden. Der wesentliche Unterschied zu Beethoven und zu vielen anderen ist, dass Schubert in seiner Musik keine Ideen ausdrücken will, sondern alle Regungen in seinem Inneren.
Und ganz plötzlich ist es, als wolle er rebellieren gegen dieses innere Gefühl der Niedergeschlagenheit und der Trauer. Da ist dann wieder dieser Wunsch nach einer besseren Welt. Und wir wissen aus seiner Biografie, dass es bei ihm Augenblicke großer Begeisterung und schwerer Depression gab. In seiner Musik findet man das andauernd.
Man muss sagen, dass es heute die nationalen Klavierschulen nicht mehr gibt. Als ich etwa 20 Jahre alt war, also in den achtziger Jahren, konnte man bei Wettbewerben sofort die russische Schule erkennen, genauso die amerikanische, die deutsche oder französische Art zu spielen. Heute, in unserer globalisierten Welt, kann jeder überall bei unterschiedlichen Lehrern studieren. Nehmen Sie die Pianisten aus China, Korea oder Japan, die in England, Deutschland oder Österreich studieren ‒ man kann einfach nicht mehr erkennen, welcher Pianist zu welcher Schule gehört.
Die italienische Schule war vor allem russisch beeinflusst. Am Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Klavierlehrer hier russisch geprägt, vor allem durch die Schule von Anton Rubinstein. Einer seiner Schüler hat sich in Neapel niedergelassen und hier eine italienische Schule gegründet mit deutlich russischem Einfluss: Der Schwerpunkt lag auf Klangschönheit oder auf der Gesanglichkeit des Anschlags. Aus dieser neapolitanisch-russischen Art zu spielen ging dann die Schule von Maria Tipo hervor.“
Andrea Lucchesini spielt die Sonate A-Dur von Domenico Scarlatti, K 342. In seiner Aufnahme für das Label Audite hat Lucchesini sechs Scarlatti-Sonaten mit den Sechs Encores des 2003 verstorbenen Luciano Berio verzahnt ‒ ein Dialog zwischen Alt und Neu, der wunderbar funktioniert, weil der Pianist beide Komponisten mit seinem brillant perlenden Anschlag und seinem Sinn fürs Erzählerische verbindet.
Beide Qualitäten verdankt er letztlich seiner verehrten Lehrerin Maria Tipo. Mit sechs Jahren kam er in ihre Florentiner Klasse und blieb insgesamt zwölf Jahre. Noch heute ist er stolz darauf, ihr „Originalprodukt“ zu sein.
„Maria Tipo war nicht nur eine große Pianistin ‒ sie hatte auch eine grandiose Begabung und eine unglaubliche Leidenschaft fürs Unterrichten. Manchmal hat sie ihren Schülern mehr Zeit gewidmet als ihren eigenen Konzertvorbereitungen. Diese Hingabe ist für mich heute ein Ansporn für meine eigene Lehrtätigkeit ‒ ich will etwas von dem an die Jugend zurückgeben, was ich selbst von Maria Tipo bekommen habe.
Das Prinzip ihres Unterrichts war die Verbindung von höchster technischer Perfektion und größter Entspannung, wobei immer der schöne Klang im Vordergrund stand. Das alles ist der Grund, warum sie so viele fantastische Schüler hatte, unter denen keiner dem anderen gleicht. Wir sind alle grundverschieden, denn sie hat uns zwar die Grundregeln des Klavierspiels beigebracht, dabei aber jedem und jeder von uns die eigene Entwicklung und Persönlichkeit belassen.“
Mit der Sonate h-Moll von Franz Liszt wagte sich Andrea Lucchesini 1983 beim Dino-Ciani-Wettbewerb in Mailand vor die internationale Jury: ein 18-jähriger, schüchterner Jüngling mit Lockenkopf, der zwar damals schon Schubert im Gepäck hatte, sich aber vor allem mit Liszt, Bartók und Tschaikowsky den ersten Preis erspielte. Das Plattenlabel EMI witterte in Lucchesini den neuen italienischen Jungstar und produzierte mit ihm in schneller Folge die Schlachtrösser des Virtuosen-Repertoires: Liszt, Chopin, schließlich auch die Hammerklavier-Sonate von Beethoven. 1988 kam die fünfte Platte heraus, dann verschwand Lucchesini wieder vom Markt ‒ für ihn war das Virtuosendasein ein Holzweg.
„Als junger Mensch war ich extrem schüchtern und überhaupt kein extrovertierter Typ mit zirzensischen Ambitionen, das war ich überhaupt nicht. Aber die Plattenfirma hat mir dieses Etikett des Virtuosen aufgedrückt, was auch ein Anreiz für die Konzertveranstalter. Plötzlich musste ich lange Tourneen machen mit den Konzerten von Tschaikowsky und Liszt. Ich konnte das spielen, aber irgendwann dämmerte es mir, dass ich eine ganz andere Art von Künstler war, weniger instinktiv und eher rational. Danach bin ich wie viele andere in eine Art Wachstumskrise gekommen ‒ also in diesen Zustand, in dem sich nach dem eher unbewussten Zugang zur Musik in der Jugend ein klareres Bewusstsein, die Reflexion meldet. Wenn man jung ist, ist alles ganz einfach. Plötzlich aber musste ich jetzt über jede Note nachdenken, alles neu studieren. Und dabei war mir die Kammermusik sehr hilfreich. Musik mit anderen zu machen, war ungeheuer wichtig und bereichernd. Auch meine Technik hat davon profitiert: Wenn man mit Streichern zusammenspielt, bekommt man ein ganz anderes Gefühl für den Klavierklang, man stellt sich auf den gesanglichen Ton der Streicher ein, entfernt sich vom perkussiven Klavierton und bekommt ‒ bei aller Akkuratesse ‒ am Ende einen weicheren Klang.“
Andrea Lucchesini und das Quartetto di Cremona spielen das Finale von Camille Saint-Saëns‘ frühem Klavierquintett op. 14 ‒ ein romantisch schwelgendes Werk, in dem sich der Pianist tatsächlich erstaunlich auf den Atem und die Klanglichkeit der Streicher einlässt.
Lucchesini wurde 1965 in der Provinz Pistoia in der Toskana geboren, einer Kulturlandschaft, die er zeit seines Lebens nur für Konzertreisen verlassen hat. Einige Jahre wirkte er in der Leitung der Musikschule von Fiesole in den florentinischen Hügeln; heute unterrichtet er in Rom, gestaltet aber noch das Programm des Kammermusikfestivals in Florenz. Und dass ihm der Dialekt seiner Stadt geläufig ist, merkt man, wenn er hin und wieder die harten K-Laute aspiriert ‒ oder „auffrisst“, wie man das in Florenz nennt.
Noch immer hat Lucchesini seinen Lockenschopf, der mittlerweile etwas ergraut ist; und noch immer wirkt er etwas schüchtern, wenn er eine Cafeteria sucht, um sich bei einem Espresso über Schubert oder Beethoven auszutauschen, dessen 32 Klaviersonaten er am Beginn des Jahrtausends eingespielt hat. Vor der Beschäftigung mit Beethoven allerdings lag die Begegnung mit einem Komponisten, der Lucchesinis Denken über Musik umgekrempelt hat.
„Enorm wichtig war für mich die Begegnung mit Luciano Berio. Er hat mir die Tür zur zeitgenössischen Musik geöffnet ‒ zu einer Welt, die ich damals kaum kannte.
Nach meiner Meinung war Berio einer der größten Komponisten. In Italien gehörte er außerdem zu den wenigen, deren Stimme in der Musikpolitik etwas galt. Wenn Berio sich zu etwas äußerte, haben alle zugehört, sogar die Politiker. Er wollte, dass sich etwas änderte im defizitären italienischen Musikleben, dass die Ausbildungsstätten besser funktionieren. Und er setzte sich für die Wertschätzung zeitgenössische Komponisten und die Aufführung ihrer Werke ein.
Außerdem ist er vehement gegen das „Spezialistentum in der neuen Musik“ angegangen, wie er es nannte. Ihm war wichtig, dass sich die großen Interpreten von Beethoven, Mozart und Chopin der zeitgenössischen Musik widmeten, denn für ihn gab es im musikalischen Zugang keinen Unterschied.“
Im Jahr 2001, zwei Jahre vor Berios Tod, hat Lucchesini seine Klaviersonate in Zürich uraufgeführt ‒ ein Werk, bei dem Komponist und Interpret eng zusammengearbeitet haben.
„Er hatte großen Respekt vor der geschichtlichen Tradition des Instruments. Für mich war das eine große Lehre, denn aus diesem Respekt heraus hat er die Spielweise der Instrumente nicht grundlegend verändert, sondern sie so belassen, wie sie war. Er hatte kein Interesse an ungewöhnlichen Effekten, sondern ging von dem aus, was von den Cembalisten bis hin zu den Meistern des 20. Jahrhunderts geschrieben worden war. Seine Stücke sind höchst virtuos und schwer ‒ aber nichts ist unspielbar. Denn er hat sich während der Komposition mit den Interpreten ausgetauscht, um mit ihnen zusammen herauszufinden, was möglich war und was nicht.“
Über Luciano Berio und die Kammermusik hat sich Andrea Lucchesini auch einen Komponisten neu erschlossen, der schon im Unterricht bei Maria Tipo eine wichtige Rolle spielte: Ludwig van Beethoven. Fast die gesamte Kammermusik mit Klavier hat Lucchesini zusammen mit dem Cellisten Mario Brunello und anderen gespielt; dann wagte er sich an die 32 Klaviersonaten, die er im Konzert mitschneiden ließ und 2004 als CD-Box veröffentlicht hat.
„Mit Beethoven habe ich unglaublich viel erfahren über die Entwicklung und das Innenleben des Instruments. Das ist, als würde einen Beethoven an die Hand nehmen und einem all die Wunder zeigen, die das Klavier umschließt. Man findet Beethovens grandiosen Zugriff, den „Beethovenschen Code“ in allen Sonaten, von der ersten bis zur letzten. Aber der Gebrauch des Instruments hat sich doch sehr verändert. In der frühen Periode knüpfte er eher an Haydn, Mozart oder Carl Philipp Emanuel Bach an: Das ist alles sehr technisch gedacht, er komponierte so zu sagen Schwarzweiß für Tasten.“
Dann folgt in der mittleren Phase der spektakuläre Beethoven, der seine Musik mit großer Virtuosität inszeniert, wenn man an die Waldstein-Sonate oder die „Appassionata“ denkt. Interessant ist, dass er sich dann in der Spätzeit immer mehr der Tongebung und der Kantabilität der Streichinstrumente annähert. Man findet das in den letzten Sonaten op. 109-111, vor allem in op. 110.
Andrea Lucchesini, der in den 1990er Jahren sein Klavierspiel grundlegend überdacht und ausgeschliffen hat, konnte von allen Phasen Beethovens profitieren: Seine Anschlagstechnik ist glasklar, wobei jeder Ton Gewicht und Klangschönheit besitzt; er beherrscht den virtuosen Zugriff, der den modernen Flügel ausreizt, ohne ihn zu sprengen. Lucchesinis wahre Fähigkeit aber ist die Gesanglichkeit der Phrasen und ein Klangzauber, bei dem das Instrument plötzlich zu leuchten beginnt. Und musste er damit nicht automatisch bei Schubert ankommen?
Mit den Impromptus hat Lucchesini vor gut zehn Jahren seine Schubert-Erkundungen begonnen; danach folgte eine gewagte Verknüpfung der Moments musicaux mit dem 2009 entstandenen Zyklus Idyll und Abgrund von Jörg Widmann, der sich mit Schubert kompositorisch auseinandersetzt. Jetzt hat Lucchesini beim Detmolder Label Audite die Aufnahme der späten Schubert-Sonaten begonnen ‒ und ist dabei tief in die Poesie und Kompositionsweise eingedrungen.
„Es gibt die Theorie, dass das Quecksilber, das Schubert gegen seine Syphilis einnehmen musste, bei ihm Halluzinationen ausgelöst hat. Ich denke da zum Beispiel an den Mittelteil im zweiten Satz der A-Dur-Sonate, Deutsch-Verzeichnis 959. Diese musikalischen Fragmente und Splitter, die er da komponiert, sind eigentlich unerklärlich ‒ das ist, als würde die ganze Natur aufbegehren. So etwas gibt es in den übrigen Sonatensätzen nicht, das ist völlig außergewöhnlich.
Sicher gehört auch das Dämonische, Bedrohliche zu den späten Sonaten. Aber hart am Abgrund winkt bei Schubert immer auch das Rettende, die Erlösung.
„Nehmen wir den letzten Satz der A-Dur-Sonate. Auch hier wiederholt er ständig die gleiche Figur ‒ aber dann genügt ihm eine minimale Veränderung, um uns ganz woanders hinzuführen. Das ist ein besonderer Augenblick, den ich gern als „Erhebung“ bezeichne.
Ich nenne ganz bewusst „Erhebung“ ‒ so etwas gibt es bei Beethoven nur selten, aber bei Schubert andauernd, auch in den kleineren Stücken. Mir kommt es dann vor, als würde Schubert den Himmel berühren, als würde er bald im Paradies sein. Erst befinden wir uns auf dem Boden, doch plötzlich öffnet sich ein Spalt, durch den der Himmel sichtbar wird. Und so etwas gibt es tatsächlich nur bei Schubert, vielleicht noch bei Gustav Mahler.
Man hat Schubert oft seine Längen vorgeworfen ‒ ich halte das für einen fatalen Fehler. Denn der Grund für diese gewaltigen Dimensionen bei Schubert und dafür, dass die Motive sich immer im Kreis drehen, ist, dass er die Welt seiner Musik erst dann verlassen will, wenn er den überzeugenden Weg gefunden hat.
Ich denke zum Beispiel an die Pausen ‒ sie sind ungeheuer wichtig. Statt eine Modulation vorzubereiten, macht er eine Pause, eine überraschende Unterbrechung. Im Finale der A-Dur-Sonate kommt das Thema plötzlich zum Stillstand. Dann verändert er die Tonlage, geht nach a-Moll statt A-Dur ‒ dann eine erneute Unterbrechung und er ist in F-Dur: So könnte es auch gehen ‒ aber vielleicht doch nicht … Nachdem er so mehrere Möglichkeiten ausprobiert hat, kehrt er zur Grundtonart zurück. Das wirkt dann wie ein Seufzer der Erleichterung, dass er am Ende seinen Weg doch noch gefunden hat.“
Das war: Toskanische Klarheit ‒ der Pianist Andrea Lucchesini. Eine „Musikszene“ von Michael Struck-Schloen.
Als Andrea Lucchesini 1983, mit 18 Jahren, seinen ersten Wettbewerb gewann, gab es noch so etwas wie eine italienische Klavierschule. Ihre Helden